Kleine Welten
Literarischer Blog von Nils Nussbaumer
Das Ruhrgebiet im Winter. Der Schnee ist schwarz gefahren und in jedem staubigen Fenster eine farbig-blinkende Lichterkette. Kinder rutschen auf Alditüten Bauschutthügel hinunter. Simon auf Skiern die Vonderbergstraße entlang. Danach kannste die wegwerfen. Liegt doch nix hier. Siehste doch. Aber er weiter auf Skiern die Straße entlang. Spaziergänger stapfen vorbei. Und ich weiß noch, wie ich mich immer gefreut und bereit gemacht habe, Guten Tag, weil man sich in der Vorweihnachtszeit hier plötzlich grüßte.
Jeden Samstagmittag heult die Sirene durch das Tal. Ich sehe zu den Kühen rüber, wie sie kurz ihren Kopf heben, einen Augenblick lang irritiert in die Ferne starren, nur um im nächsten Moment unbeeindruckt weiterzukauen.
Wir wandern ins Nord. Unsere Körbe voll Holunderblüten. Simon immer vorneweg. Er hat Vaters Wollmantel an. Holunderblütenköpfe ragen aus den tiefen Taschen. Sonnenmilchbart. Seine Haare kleben schwitzig aneinander. Da, den müssen wir fällen, oder den! – er zeigt auf Nadelbäume. Denkt im Juni schon an Weihnachten. Am Abend kommen wir wieder. Wir sitzen im Unterholz, erzählen uns Geschichten, zählen die Tage bis Heiligabend, und fahren immer wieder abwechselnd mit der geklauten Bügelsäge am Stamm entlang.
Endlich, Silvester! Alle meine Freunde sind zu Gast, sogar Hendrik von weit her. Und ich mit hohem Fieber im Bett meiner Mutter. Hin und wieder stecken sie ihre Köpfe durch die Tür. Wie es mir geht und ob wir nicht etwas spielen können?
Einige Wochen nach dem Praktikum im Altenheim traf ich Herrn E. zufällig auf der Straße. Wie sehr sich der alte Mann freute, mich zu sehen! Ich hatte gesagt, ich würde ihn auch nach dem Praktikum besuchen kommen. Ich tat es nie.
Wenn er uns umarmte, blieb uns immer die Luft weg. Ich spannte mich vorher an, aber vorbereitet war ich nie. Noch Jahre danach am Telefon zur Verabschiedung sein Brummen, als würde er uns umarmen. Und ich war angespannt, jedes Mal.
Das Kirschkratzeis auf dem Spielplatz. Lippen wie Wein. Und immer zerpringt der Plastiklöffel und dann mit dem Stiel weiteressen.
Mutter trank einen letzten Schluck Kaffee und schüttete ihn in die Spüle, immer noch in den Zeitungsartikel der Vorarlberger Nachrichten vertieft. Ein Kaffeejunge, nicht älter als Simon, irgendwo in Guatemala, wie er an den Hängen eines Vulkans zentnerschwere Bohnensäcke schleppt, schwer bewacht von Milizen. Sie schnitt das Bild aus, das zahnlose Lächeln des Jungen, und hing es an den Oberschrank. Simon und ich nannten ihn Ringo und wollten ihm Spielzeug und Schillinge schicken.
Was sollen wir nur anfangen mit dem Tag? Wir laufen barfuß auf den aufgeheizten Terrassensteinen. Wer hält länger durch? Mutter unter dem alten Apfelbaum am lesen. Nachbarskinder mit ihren Eltern auf Familienausflug. Seas, grüasdi, Liesl – aber Mutter unter dem alten Apfelbaum in ihrer eigenen Welt. Von irgendwo Schreinerarbeiten. Kaum erst Mittag. Vater schlägt mit der Zeitung auf Fliegen. Autoquartett spielen und irgendwann die Zeit vergessen.
Das Mädchen im Baumhaus. Wir stehen in einer Schlange darunter im Feld. Kaugummikauend. Treten nervös von einem Bein aufs andere. Wer als nächster die kleine Holzleiter hinauf und sich einen Kuss abholen? Die ersten liefen schon an uns vorbei, diejenigen, die es schon hinter sich hatten. Jubelnd oder die Hände in die Hosentaschen vergraben, als küssten sie jeden Tag.
Noch Wochen danach bin ich alles immer wieder durchgegangen. Oben bei R. auf dem Spitzboden. Mit der Modelleisenbahn fahren und die Liebe zerreden. Ich habe immer wieder ihr Lächeln vor Augen, als ich die Leiter hoch. Der Kuss und ob es nicht nochmal ginge? Meine Lippen spröde und überhaupt. Ob es nicht nochmal ginge?